Zeit

Zeit von Dana Berg


(I) Pandemie als Vergangenheit


Die Pandemie ist ein Blick zurück. Eine neue Pandemie beginnt, mein Blick wandert hin zu anderen Pandemien. Er wandert hin zu den schrecklichsten, geht zur Pest, geht zur Spanischen Grippe. Ich will verstehen, wie schrecklich die Vergangenheit war und wie das Schreckliche erträglich gemacht wurde, um damit meine Gegenwart erträglich zu machen, um zu verstehen, in welchen Momenten sich Überschneidungen mit heute finden, um mit dem Bekannten von einst meinem Heute Unbekanntes zu entreißen, um mich mit Wissen zu trösten.


Im April des Coronajahres schaue ich schon auf den März zurück. Ich schaue, wer wann die Ernsthaftigkeit der Lage erkannte. Wer hat gehandelt, wer hat gezaudert, wem kann ich etwas davon vorwerfen. Ich brauche Schuldige, ich finde diese Schuld in der Vergangenheit. Wer erachtete das Bierfest von Tirschenreuth Anfang März als unbedenklich? Wer schenkte in Ischgl Aperol Spritz aus? Wer ließ den Enkel die Großmutter im Heim besuchen? Ich stöbere nach Widersprüchen, nach in der Vergangenheit getroffenen Aussagen, die heutigen Standpunkten entgegenstehen: Was sagten Virologen im Februar über Masken, was im April? Was postete die blaue Alternative im März zum Lockdown, was im Mai?


In den Geschichten über die Pandemie wird sie zur Vergangenheit. Im August sehe ich eine Dokumentarserie, die zeigt, wie das Virus im April in einem New Yorker Krankenhaus wütete. Im Oktober, die zweite Welle beginnt gerade, werden mir auf einem Streamingportal fiktive Geschichten von der ersten Welle präsentiert; auf unterhaltsame Weise wird mir vor Augen geführt, wie der Lockdown war, wie sozialer Abstand, das erste Aufsetzen der Maske. Meine Erinnerung wird in eine fiktionale Erzählung überführt. Auch sie soll mich trösten, indem sie mich Abstand gewinnen lässt. Dabei sehe ich Geschichten der Vergangenheit, während mir diese Vergangenheit gerade noch geschieht.


(II) Pandemie als Gegenwart


Die Gegenwart dauert 15 Stunden 29 Minuten. Die Gegenwart ist Igor Levit, der 15 Stunden 29 Minuten lang Vexations von Eric Satie spielt, um auf die Situation der Kunst in der Pan-demie zu verweisen. 840 Mal die Abfolge von 17 Akkorden. Satie schrieb in die Partitur, es wäre »ratsam, sich vorher in tiefster Stille und vollkommener Bewegungslosigkeit vorzubereiten.«


Vexation bedeutet so viel wie Qual, Verdruss, Plage. Während des Spielens isst Levit Datteln. Nach jeder Abfolge der siebzehn Akkorde greift er ein Blatt Noten vom hohen Stapel, lässt es zu Boden schweben, sitzt so nach 15 Stunden 29 Minuten inmitten eines Teppichs gespielter Musik, Blätter, die dasselbe zeigen, dasselbe klang jedes Mal anders.


In der Gegenwart ist die Pandemie tiefste Stille und vollkommene Bewegungslosigkeit. Ich sitze im Lockdown fest, ich werde festgesetzt, zum Stillstand gezwungen. Das hingenommene Fließen hat gestoppt. Was ist, ist zäh und starr. Wäre ich Optimist, formulierte ich: Das Jetzt hat sich entschleunigt.


Die Gegenwart ist ständiges Beschleunigen. Nie habe ich das Gefühl, mit den Sekunden mithalten zu können. Nie die Annahme, es gäbe einen Moment, in dem ich die Gegenwart greifen könnte, nie der Augenblick, in dem ich sie halte und damit kontrolliere. Die Einschläge geschehen unablässig: sich ständig aktualisierende Newsticker, ständig Pushs auf dem Sperrbildschirm, ständige Pressekonferenzen, ständig jemand, der etwas gelesen und gehört und geschaut hat, ständig ein Puzzleteil, über das ich verfügen muss, weil ich irrsinnigerweise annehme, damit würde sich ein komplettes Bild ergeben von einem weltumspannenden Ereignis, das in alle Belange eingreift.


Ich sitze fest und an mir wird gezerrt. Die Gegenwart ist Halt und Raserei in einem. In ihren beiden extremen Zuständen kann es mich dabei nur zersetzen. Die Gegenwart löst mein Verständnis von der Zeit auf.




(III) Pandemie als Zukunft


Vor allem ist die Pandemie etwas Schreckliches. Sie ist Unheil, sie droht es mir an. Ihr Unheil wird mich ereilen. Weil die Pandemie weltweit geschieht, wird sie auch hier geschehen und damit mir. Je mehr ich über die Zukunft weiß, desto gründlicher kann ich mich gegen das Unheil wappnen. Deshalb muss ich die Zukunft der Pandemie kennen, um in der Gegenwart ein Rest von Sicherheit zu spüren.


Die Zukunft der Pandemie lese ich anhand der Zahlen. Ich lese sie als exponentielles Wachs-tum, ein mathematischer Vorgang, für den meine Vorstellungskraft nicht geschaffen ist. Ich kann mir das Doppelte von etwas nur über einen bestimmten Zeitraum hinweg vorstellen. Das Virus weiß von meiner Schwäche, es nutzt meine mangelnde Fantasie.


Ich erwarte die Zukunft. Ich erwarte die Zahlen. Ich extrapoliere. Mit dem Extrapolierten kann ich nichts anfangen. Eintausend ist einhunderttausend ist eine Million. Also erwarte ich die Bilder. Weil es die Bilder anderswo gab, erwarte ich die Bilder der Intensivstationen, die Bilder der künstlich Beatmeten. Weil anderswo gestorben wurde, erwarte ich die Toten auch hier. Ich erwarte Bergamo. Ich erwarte eine zweite Welle. Ich erwarte, dass Politikerinnen etwas beschließen und ich erwarte, dass sie mit ihren Beschlüssen versagen. Ich erwarte Infektionen nach Black-Lives-Matter-Demonstrationen, ich erwarte sie erst recht nach den Querdenken-Demonstrationen. Ich warte darauf, welcher Prominenter sich gegen zu strenge Coronamaßnahmen ausspricht. Ich erwarte, dass es kein Mehl mehr im Supermarkt gibt. Ich erwarte die Zahlen von morgen, am Wochenende niedriger, im Herbst und Winter höher. Ich erwarte die eigene Infektion. Ich erwarte einen Impfstoff. Ich erwarte das Ende der Pandemie. Die Pandemie ist für mich das, was geschehen könnte, die Pandemie ist Zukunft.


(IV) Pandemie als alles zusammen


Past, Present, Future ist die Pandemie in den Zahlen. Die Gegenwart als ein Punkt, der zufällig die drei Zustände vereint. Die Zahlen von heute zeigen mir, wer sich vor einigen Tagen ansteckte. Daraus lässt sich ableiten, wer in Zukunft leiden wird. Die Gegenwart hilflos gestrandet zwischen war und werden. Dabei wäre sie der einzige Punkt, an dem ich etwas tun könnte, jetzt, 1…2…3 … schon vergebens.


(V) Pandemie als Loop


In ihren Wellen kehrt die Pandemie als Loop zurück. Was im Frühjahr war, geschieht im Herbst erneut. Ich nehme die Veränderungen der Loops mit großem Interesse wahr und bewerte damit die Gegenwart. So oder so: Die Unfähigkeit, Zeit zu empfinden, holt mich wieder ein. Ich stecke fest in einem einzigen großen Pandemiekreislauf. Das Gleiche geschieht wieder und wieder und wieder. Seit März spielt Igor Levit dieselben 17 Akkorde.


(sp)